Er hat ja Haare, oder: Warum man nur mit Glatze „echten Krebs“ hat und andere Vorurteile II
Wo wir beim Thema Haare waren. Hier
auch ein weiterer schöner Satz:
„Der hat ja Haare?!“
Im ganz normalen Leben wäre dieser Satz vermutlich etwas seltsam, deplatziert irgendwie. Aber aktuell befinden wir uns ja irgendwie nicht ganz im „normalen Leben“, zumindest nicht im Alltäglichen. Deshalb birgt diese Aussage auch eine gewisse Komik. Ich habe ihn ein paar Mal zu oft gehört. Wann immer ich ein Foto meines krebskranken Jungen zeigte, kam genau dieser. Witzig oder? Nun, zumindest in der Anfangs - und Mittelphase, als er noch sowas wie eine Haarpracht hatte.
Ja, auch krebskranke Kinder haben Haare. Und ich weiß, da hat uns die Filmindustrie ein falsches Bild vermittelt. Denn wann immer man einen Krebspatienten im Fernsehen und Film sieht, ist die Glatze vorprogrammiert. Ja, es gibt gewiss viele, die sich eine scheren. Unser Sohn wollte das nie. Er wollte dass sie ausfallen, wenn sie eben ausfallen. Und ob das regelmäßig oder unregelmäßig ist, war ihm total egal. Lediglich etwas kürzer hat er sie schneiden lassen, bevor sie ausdünnten und verschwanden.
Und auf gewisse Art und Weise bewundere ich ihn dafür, denn wie oft gucken wir auf uns und achten auf alles? Wirklich jede kleine Ungenauigkeit und lassen uns davon verunsichern. Dennoch scheint in den Hirnen der meisten Menschen verankert zu sein, dass du erst richtig krank bist, zumindest richtig an Krebs erkrankt, wenn du all dein Haar verloren hast. Und so wunderte sich so mancher, weshalb mein Sohn eben noch welches besaß und ob er denn wirklich so krank sei.
Das ist schon irgendwie in Ordnung. Ich sag ja, das Fernsehen ist verantwortlich. Soweit so gut. Also, nur um euch noch mal auf dem Laufenden zu halten: Nein, nicht jeder verliert sofort alle Haare bei einer Chemotherapie. Sie fallen nach und nach aus. Manchmal stärker, manchmal schwächer und manchmal eben ganz und gar.
Der Status deiner Haarpracht sagt nichts über deinen Gesundheitszustand aus. Und trotzdem sorgte eben dieser Satz des Öfteren für das Gefühl, als müsste ich mich für irgendwas rechtfertigen. Als wäre mein Sohn nicht „krank genug“ oder was für seltsame Gedanken in meinem Kopf noch so herumschwirrten. Als wäre diese Diagnose nicht genug. Eben so als müsste man sich rechtfertigen, weshalb der Sohn nicht krank genug aussehe. Ein saudämlicher Gedanke, oder? Ja, jetzt da ihr diese Zeilen lest, erscheint es euch vermutlich auch so. Steckt man aber mittendrin, ist es die ganze Zeit da. Und so nehmt es mir nicht übel, und das ist auch wieder ein kleiner Spoiler, als sich tatsächlich ein bisschen Beruhigung breit machte, als Dean seine Fast–Glatze bekam. Das jetzt zu schreiben, lässt mich ein bisschen schmunzeln. Was habe ich Rotz und Wasser geheult um seine Haare! Ihr seht, es verlagert sich alles, Prioritäten werden neu gesetzt.
Es gibt viele Vorurteile rund um eine Krebserkrankung und was sie so mit sich bringt. Viele falsche Vorstellungen, und wie wir festgestellt haben, viel zu viele Floskeln.
Hier ist noch eine:
“Ach Leukämie, ja das ist ja gut zu heilen!“ Dies ist auch so ein Satz, der mich regelmäßig die Faust zusammenziehen lässt. Jedes Mal einen Euro, wenn ich den gehört hatte, und wir hätten keine finanziellen Sorgen gehabt.
Sorry, wenn mein Kind nicht irgendwie den „coolen Krebs“ bekommen hat und es dann halt doch „nur Leukämie“ geworden ist. Und wieder einmal herrscht der Wunsch, die Leute würden ein bisschen mehr denken, bevor sie sprechen. Und nein, ich kann es Ihnen nicht übel nehmen, das weiß ich selbst. Und ich tue es trotzdem! Denn es ist und bleibt eine hilflose Floskel. Eine von vielen und ja, ich weiß, sie meinen es nur gut. Sie wollen beruhigend wirken. Sie sind für sich selbst erleichtert, dass es nicht doch die tödlichste Art des Krebses ist. Oder was auch immer sie sich gerade in ihren Köpfen ausgemalt haben, als sie von der Diagnose erfahren haben. Und trotzdem es ist ätzend! Denn auch wenn die Prognosen nicht schlecht stehen, haben wir doch in den Monaten auf der Station gelernt, man ist vor dem Rezidiv nie gefeit. Und noch viel schlimmer, der Weg zum Ziel ist das Schlimmste von allem. Denn scheißegal, welche Krebsform es ist, man muss durch die Therapie! Und genau da ist es, wo die Floskel beginnt und das lang reichende Denken aussetzt.
Ich schreibe das Ganze hier gerade an Tag 262 unserer „Reise“. 262 Tage, die wir bereits dabei sind! 262 Tage Intensivtherapie nach Protokollen. Und noch ist es nicht zu Ende, auch wenn wir uns auf der Zielgeraden befinden. Wohl gemerkt auf der Zielgeraden zur Langzeittherapie. Denn mindestens zwei Jahre wird die Therapie insgesamt dauern. Und wenn wir ehrlich sind — danach noch das ganze Leben.
Die Ängste, die wir ausstehen werden, bei jeder kleinen Erkältung die Dean nach Hause bringt, bei jedem Unfall, jedem Unwohlsein, die Frage, ob der Krebs zurück ist oder ob es nur etwas „ganz Normales“ ist, wird uns sehr lange noch begleiten. Vielleicht sogar unser ganzes Leben. Und da hört es auf, dieses „es ist doch leicht zu behandeln“. Ich glaube, das ist auch vielen von unseren Begleitern bewusst geworden. Viele, die anfangs eher erleichtert wirkten ob der Diagnose, die eigentlich von all den schlimmen Krebsarten, die man so hätte erwischen können, noch eine recht „gute“ ist, ließen sich eines Besseren belehren.
Und dann gibt es da noch die Leute, die den Therapieweg so gar nicht verstehen und sich ein jedes Mal wundern, dass wir immer noch „dabei sind“, dass es nicht schon längst „alles durch“ ist oder wir es noch nicht geschafft haben. Die das alles nicht verstehen wollen oder können. Und das müssen sie auch nicht. Denn letztendlich müssen sie da nicht durch. Und ich freue mich darüber, denn das bedeutet es gibt weniger von „uns“.
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