Er hat ja Haare, oder: Warum man nur mit Glatze „echten Krebs“ hat und andere Vorurteile I
Rückblick
Ich versuche mir über die Dinge klar zu werden, die mir wichtig waren, bevor ich meine Familie in einem Drehbuch einer Art dramatischen Folge Grey’s Anatomie wiederfand.
Wir alle sind verletzbar, menschlich, geradezu erbärmlich zerbrechlich. Wir alle sind sterblich und niemand wird ewig leben. So viel ist uns klar. Wir haben in der Familie schon früh angefangen zu vermitteln, wie man vernünftig mit dem Thema Tod und Sterblichkeit umgeht. Unsere Kinder sind da offen erzogen. Aber wenn dich eine Diagnose überrollt, die den Tod deines Kindes bedeuten könnte, dann wird dir schmerzlich bewusst, wie wertvoll und fragil dieses Leben eigentlich doch ist.
Einatmen, ausatmen, versuchen nicht zu weinen, während sich deine Augen mit diesem feuchten Schleier füllen, der deine Sicht vernebelt. Tränen bedeuten, dass etwas Außerordentliches geschieht. Tränen machen Angst. Also weine ich nicht. Damit Dean nicht abgelenkt wird, damit der Arzt ohne Umschweife weiter spricht. Ich schaue nur immer wieder an einen Punkt an die Wand. Fixiere ihn, um dem Schleier Herr zu werden. Atme ein, atme aus und konzentriere mich auf die Worte des Arztes.
Unendlich viele Worte und Massen an Informationen. Wir versuchen uns alles zu merken, versuchen den Fragen in unserem Kopf eine Form zu geben und sie zu stellen oder zumindest die Worte zu finden, die uns gerade irgendwie allen fehlen.
Wir sind tapfer, finde ich zumindest. Aber wir hatten auch mit dem Schlimmsten gerechnet, daher ist dieses „tapfer“ irgendwie auch nicht das, was es sein sollte. Dean hört ebenso gewissenhaft zu wie wir.
Der Arzt verschwindet, um uns Raum zu geben, die Information zu verarbeiten. Als wir mit Dean sprechen scheint es jedoch eines zu sein, das ihn am meisten zu bedrücken scheint.
„Ich habe dann eine Glatze. Mir fallen die Haare aus. Das hat der Arzt gesagt.“ Er begreift auch all das andere. Er weiß die Wahrheit, weil wir ihm nichts verschweigen und nichts verschönern. Das ist Familiengesetz. Wir sind ehrlich zueinander. Brutal aufrichtig, wenn es sein muss, egal wie hart die Wahrheit auch sein mag. Aber dieser Satz treibt mir diesmal doch die Tränen richtig in die Augen. Dabei ist das auch nicht nur annähernd das Schlimmste an diesem Tag oder dieser Situation. Aber da sitzt er, mein kleiner blondgelockter Engel mit diesen langen wunderbaren Haaren und schaut mich fragend an.
„Die wachsen doch wieder“, ist einer der häufigsten Sätze dazu. Das ist, was wir uns immer wieder anhören durften, wenn wir diesen Umstand erwähnten. Wie ein Windhauch, der den Kummer und die Sorgen wegblasen soll, als wären sie nur eine Feder. Denkt ihr eigentlich, wir seien bescheuert?! Ach die wachsen wieder? Na Gott sei Dank hast du mir das gesagt. Jetzt bin ich gleich viel erleichterter.
„Am Arsch!“, möchte ich jeden anschreien, der diesen dämlichen Wortlaut über die Lippen bringt. Denn das hilft gleich mal gar nichts!
Kleiner Spoiler: Ja, die wachsen ganz bestimmt wieder. Und wenn es mit dem Ausfallen und der Glatze mal soweit ist, ist es gar nicht mehr so schlimm. Denn wenn dein tapferes Kind mit seiner Glatze vor dir sitzt und einfach nur lächelt oder kotzt oder was Chemopatienten gerade so tun, dann ist es dir scheißegal, ob es das mit Haaren oder mit Glatze tut. So viel sei schon mal verraten. Aber darum geht’s auch gar nicht.
Es geht nicht um die Haare. Es geht um all das, was mit den Haaren noch verloren geht.
Die Kindheit, die schwindet. Um die Krankheit, die die Überhand gewinnt.
Und das „krank aussehen“. Um das, was das Kind ziehen lassen muss. Die Furcht vor dem was wird und wie es endet.
Um all das und noch viel mehr geht es, wenn wir diesen Umstand erwähnen. Wenn wir darüber reden und das unser scheinbar größtes Problem in dem Moment des Aussprechen darzustellen scheint. Da hilft kein „die wachsen wieder!“.
Denn egal wie schnell, wie dicht, wie viel und wie lange oder wie gut die Haare danach wieder wachsen, sie wachsen nicht über das was wir erlebt haben. Sie wachsen nicht über das, was das Kind verloren hat oder verlieren wird. Sie zeigen dir lediglich, wie das Leben weitergeht, dass es „wieder sprießt“.
Und ja, das ist die einzige Hoffnung, die wir hegen, das andauernde Leben.
Aber „sie wachsen doch wieder“ hat damit nichts zu tun.
Also hier die Bitte: Wenn euch jemals ein Betroffener erzählt, dass er/sie/das Kind oder irgendwer sich vor dem bevorstehenden Haarausfall fürchtet, dann tut mir den Gefallen und antwortet nicht mit „die wachsen doch wieder“.
Das ist nämlich nicht die Lösung. Nichts, was wir hören wollen. Sagt andere Sachen. Sagt ehrliche Sachen. Sagt, wie scheiße das ist. Denn letzt endlich geht’s gar nicht um die doofen Haare. Denn ja, die wachsen wieder!
Kommentar schreiben