Wie alles begann… 2
Das Witzige daran ist, ich weiß das Datum und die Uhrzeit noch. Ich glaube, auch in zwanzig Jahren werde ich es noch wissen, ohne auch nur auf irgendeinen Kalender schauen zu müssen.
Es war der 19. Juni 2018, kurz nach 3 Uhr am Morgen. Und nun befinden wir uns an der Stelle, wo im Film das erste Mal dramatisch–melancholische Musik ertönen würde und wir alle gebannt auf die Szenerie starren. Aber da war keine Musik, da war zu allererst: Stille. Die Stille der Nacht, des Traums, des Momentes bevor ich realisierte, wie ich von meinem am Bett stehenden weinenden Sohn gerade geweckt wurde. Und dies war so untypisch für ihn. Er weinte und berichtete von seinen unsäglichen Schmerzen im Knie. Einfach so aus dem Nichts. Dies ist auch der Moment, an den ich mich so oft erinnert habe in all der Zeit. Ihm tat doch nur das Knie weh. Nichts weiter. Kein Blut, keine Tragödie, nur ein einzelner Schmerz im Knie. Dass dies der Anfang einer Odyssee werden würde, war uns damals allen nicht bewusst. Wie auch? Also beruhigte ich unseren Sohn in liebevollster Muttimanier, so es mir mein schlaftrunkenes Ich gestattete, und sendete ihn mit den üblichen „das sind bestimmt Wachstumsschmerzen“ und „wenn du ausgeschlafen hast, ist es sicher wieder besser“ Floskeln wieder ins Bett.
Besonders für den Gedanken an Wachstumsschmerzen könnte ich mich heute noch selber schlagen. Und ich habe es in Gedanken oft genug. Nieder gemacht habe ich mich. Wie konnte ich, wie konnten wir, wie konnten alle nur denken, dass diese unsäglichen Schmerzen, die es noch werden sollten, auch nur annähernd vom Wachstum her rührten? Aber kann man es uns übel nehmen? Hat nicht jedes Elternteil diesen Gedanken gehegt, wenn das Kind hier und dort über undefinierte Schmerzen klagte, das Alter stimmte und die meisten von uns es doch auch von sich selbst kennen? Selbstgeißelungen bringen also rein gar nichts, das musste ich mir allerdings auch einmal öfter als gewollt sagen. Ich selbst litt als Kind unter so bösen Wachstumsbeschwerden, an die ich mich noch heute deutlich erinnern kann. Daher war mir der Satz und der Gedanke damals auch nicht schlimm oder ungewöhnlich. Erst im weiteren Verlauf merkten wir, dass das, was geschah, ganz und gar nichts mit gewöhnlichen Wachstumsbeschwerden zu tun haben konnte.
Zurück also zum 19. Juni. Dean wanderte frustriert zurück ins Bett und schlief die Nacht eher schlecht als recht. Er besuchte die Schule ganz normal und tagsüber ging es sogar. Er war aber so erschöpft, dass er, ganz ungewöhnlich für ihn, am Nachmittag einschlief, um erneut mit Schmerzen aufzuwachen. Uns war dies nicht geheuer, denn nur Wochen zuvor hatte Dean undefinierte Schmerzen in der Schulter, die sich später als Kapselriss herausstellten, weil Sohnemann uns vergessen hatte seinen Sturz mit dem Rad mitzuteilen. Aber diesem Ereignis hatten wir es zu verdanken, dass wir dem Schmerz gegenüber sensibler waren. Also machte sich Stephan mit ihm auf in die Rettungsstelle und setzte Sammy in der Zeit bei mir auf der Arbeit ab. Sammy, für alle, die es nicht wissen, ist unsere Tochter. Wir erfüllen das Klischee einer zauberhaften mittelständigen deutschen Familie mit ihren 2 Kindern. Da ich genau gegenüber der Rettungsstelle arbeitete, war dies kein großer Umweg. Leider verließen Papa und Dean die Rettungsstelle ohne großartigen Befund. Es wurde ein Blutbild gemacht, dieses war aber normal. Ansonsten sahen die Ärzte keinen großartigen Anlass um zu handeln, also schickte man Dean mit der eher oberflächlichen Betrachtung des, tada, „Wachstumsschmerzes“ wieder heim.
Heute definieren wir diesen Moment als Tag 1 von „Deans Weg“.
Am Tag darauf nahmen die Schmerzen merklich zu und das Laufen fiel ihm schwerer. Auch war das Bein deutlich angeschwollen. Wir versuchten Dean mit den üblichen Schmerzmedikamenten Linderung zu verschaffen aber die Schmerzintervalle wurden immer mehr.
Einen Tag später waren Stephan und Dean beim Chirurgen zur Nachkontrolle der Schulter und ließen dort auch direkt nochmal das Bein anschauen. Aber außer ein wenig „rumdrücken“ und der altbekannten „Diagnose“ des eventuellen Wachstums kam auch dieser Arzt zu keinem Ergebnis. Mit einem „wenn’s nicht besser wird, schauen wir Montag nochmal aufs Blut“ verließen die beiden die Praxis. Am 22. und 23. Juni wurde Deans Zustand schlimmer. Er war so schmerzgeplagt und matt, dass ihm die Schmerzmittel nicht mehr viel halfen. Er wechselt zwischen verstörendem Schmerzenschreien und erschöpftem Einschlafen zu etwas lebendigeren Phasen, verbrachte aber den größten Teil des Tages gerädert im Bett.
Nachdem Dean in der Nacht zum 24. Juni immer wieder vor Schmerzen schreiend wach wurde und die Schmerzen seiner Angabe nach nun auch in das Schienbein wanderten, konnten wir uns das Ganze nicht mehr ruhigen Gewissens mitansehen und fuhren mit ihm erneut in die Rettungsstelle. Nach über sieben Stunden, Blutbildkontrolle, Röntgenkontrolle und vielem Warten, beschloss der junge und engagierte Arzt, der uns betreute, zusammen mit seinem Oberarzt, Dean stationär aufzunehmen und am nächsten Tag ein MRT zu veranlassen. Durch seine Schulter war Dean bereits MRT erprobt und auch die stationäre Aufnahme bereitete ihm keine Probleme. Er war auch viel zu fertig, um sich diesbezüglich zu sorgen. Da saßen wir nun und beobachteten unser stetig lächelndes und doch vor Schmerzen kaum still sitzen könnendes Kind, wie es neugierig die Schwester beim Zugang legen beäugte. Wie stolz wir doch waren und noch sein würden, aber das war uns zum damaligen Zeitpunkt noch nicht bewusst. Ich meine, jeder ist stolz auf sein Kind, keine Frage. Aber dass er einmal derjenige sein würde, der UNS alle antreibt, hätten wir selbst nicht erahnt.
Es folgten Tage im Krankenhaus. Tage, Stunden, Minuten voller Ungewissheit, voller neuer Informationen, Hochs und vielen Tiefs. Schmerzensschreien, die durch Mark und Bein gehen würden, Tränen, Lachen, einfach so Vielem. Aber dazu kommen wir noch.
Verzeiht, wenn ich immer mal ein wenig hin und her springe. Die Zeiten sind chaotisch und turbulent, meine Gedanken sind es auch. Und letztendlich erfüllt dieser Blog vielleicht einzig und alleine einen Zweck: nämlich sich den ganzen angesammelten Müll und all das Geschehene einfach mal von der Seele zu schreiben.
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Steven (Donnerstag, 07 März 2019 08:35)
Danke dir das du dies teilst. Und ja, ich denke es tut wirklich gut Dinge von der Seele zu schreiben
Don (Dienstag, 04 Juni 2019 09:37)
Hallo Kitty,
auch mein Antrieb war "es mir von der Seele zu schreiben." Daraus würde mehr und heute helfe ich anderen Betroffenen. Das Schreiben ist wichtig. Es befreit.
Liebe Grüsse aus Köln
Don