Rückblick 1
Verfickte Scheiße, unser Kind hat Krebs!
Leukämie, um genau zu sein. Akute lymphatische Leukämie, nennen wir es doch beim Namen, kurz ALL. Und wer jetzt, wie so manche mit „oh, das ist aber gut zu behandeln“ kommt oder andere „tröstende“ Sprüche im Kopf hat – behaltet sie bitte einfach für euch. Und ich meine immer! Egal ob einfach in Gesprächen oder in Gegenwart von Betroffenen, so ihr denn welche kennt oder ihnen begegnet, seid einfach still und froh, dass ihr den Mist nicht am Hacken habt! Ganz ehrlich. Keiner der Sprüche hilft, sie sind nicht gerne gehört, aber darauf gehen wir nochmal gesondert ein, versprochen. Ihr hattet jetzt gewiss eine hochtrabende Einleitung erwartet, nicht wahr? Mit klugen Worten, vielleicht ein wenig Umschweife und kurzen Erzählungen, bevor wir zum Wesentlichen kommen? Tja, da muss ich euch leider enttäuschen. Drauf geschissen, denn wir haben auch keine Einleitung bekommen. Plötzlich steht man mittendrin im Krebs, im Klinikalltag, im Kampf um das Leben deines Kindes, in Papieren, oh ja, vielen Papieren, Massen an Dokumenten.
Das war eigentlich das Erste, was uns überrannte. All diese Dokumente. Einwilligungen, Aufklärungen, Infozettel, Kopien für uns, Originale für andere, alles fein säuberlich sortiert. Und trotzdem das pure Chaos. „Das ist wichtig, diese zuerst! Dies ist nicht so wichtig, das lesen Sie später. Hier noch eine Unterschrift, ja von beiden.“
„Krebs ist nix für dumme Eltern.“ Das habe ich anfangs zwar so nicht gedacht, aber den Satz hat meine Kollegin geprägt. Recht hatte sie, die gute Frau. Es gibt kein Buch „Krebs für Dummies“.
Das ist auf ganz hohem Niveau. Und wenn du keine Ahnung davon hast, oh, dann überfährt dich das alles ziemlich schnell. Aber dazu später. Kommt ruhig mal mit und seht euch um, wir bleiben eine Weile hier.
Hier, das ist die Kinderonkologie. Onkologie. Klingt hübsch, oder? Wie Onkel. Oder zumindest ähnlich. Aber auf jeden Fall so ganz und gar nicht bösartig, irgendwie. Aber wenn man sich mal genau hier umsieht, ich meine so als Laie, nicht mit den Augen, wie wir sie mittlerweile haben, dann sitzt das Bösartige hier in jeder Ecke. Es klebt am Rücken des Kindes, das sich gerade in die Tüte übergibt, die seine Mutter hält. Es hängt am piependen Perfusor, der über die Station schreit, den aber keiner mehr zu hören scheint. Und es wetzt durch die Gänge, wie ein kleiner Gnom, der sein Gift hier überall verteilt. Ich stelle mir den Gnom vor. Giftgrün und kichernd, mit spitzen, triefenden Zähnen und einem alles einnehmenden, stechenden Blick. Mega dämlich, oder? Sich eine Krankheit bildlich vorzustellen. Und dann noch als sowas? Aber wir sind auf einer Kinderstation. Falsch, auf einer KinderKREBSstation. Was also sollte angemessener sein als dieses Bild vor Augen? Und während ich unserem hüpfenden grünen und imaginären kleinen Feind hinterher blicke, fällt mein Blick auf kleine Mädchen mit Glatzkopf und einem Infusionsständer, der behangener ist als so mancher Weihnachtsbaum. Er fällt auf Eltern, die versuchen sich mit dem eher mäßigen Stationskaffee wach zu halten. Sie grüßen einen mit diesem zaghaften Lächeln, weil sie wissen, dass es dir nicht so wichtig ist wie den Außenstehenden und du verstehen kannst, wenn es zwischen all den Spucktüten, Infusionsständern, Laborergebnissen und Urinflaschen mal verloren gegangen ist.
Hier sind wir also und hier bleiben wir auch eine Weile. Nehmt also gerne Platz. Am besten auf einem der bequemen Sessel dort drüben. Die stehen extra für die kleinen Patienten hier, die darin mehr Zeit verbringen als auf so mancher Schulbank. Aber keine Sorge, in ruhigen Momenten oder aber in der Stille der Nacht ist auch für euch Platz darauf. Richtig gemütlich sind die. Und mit einem guten Buch in der Hand und Blick auf die Sterne durch die schier unendliche Fensterfront, während du die Füße hochlegst und den Tee genießt, der fast sogar gut schmeckt, findest du auch hier in der unwirklichen Welt der Kinderkrebsstation einen ruhigen Moment für dich selbst. Fast schon friedlich. Zumindest in den paar Minuten in denen mal kein Perfusor piept, sich kein Kind übergibt oder eine Klingel läutet.
Jetzt wollen wir ja aber noch gar nicht sitzen. Sitzen werden wir später noch genug!
Vorm Aufwachraum, dem Untersuchungsraum, der Röntgenabteilung, vor dem Bett, auf dem Krankenhausflur, im Auto, der Cafeteria, der Bank unterwegs, eben all den Orten an denen wir warten. Und wir warten viel. Auf Ergebnisse, auf Behandlungen, auf das Kind, das keine Kraft mehr hat zu laufen. Auf all das. Und auf Heilung. Auf diesen einen, ganz besonderen Moment, in dem es heißt, dass die ganze Scheiße hier, der ganze Albtraum, endlich ein Ende hat!
Ich stelle ihn mir wunderschön vor, diesen Moment. Wie im Fernsehen. In diesen kitschigen TV-Serien, in denen eine sanfte Melodie den einen lang ersehnten Satz einläutet und alle sich in die Arme fallen mit Tränen des Glücks in den Augen, weil endlich alles geschafft und Heilung erfolgt ist. Wundervoll oder… keine Ahnung. Ehrlich nicht! Noch nicht. Denn momentan, also in dem Moment, wo ich das hier alles aufschreibe, da stecken wir noch mitten drin. Und ich wette mit euch, der Moment wird nicht annähernd so sagenumwoben schnörkelig schön, wie ich ihn mir gerade ausmale. Vermutlich klappen wir alle zusammen, heulen eine Runde und bleiben dann erstmal eine Weile liegen, weil wir so k.o. sind. Wer weiß das schon. Aber ich lasse es euch dann wissen.
Den Moment, in dem wir eine Diagnose erhielten, hatte ich mir nämlich auch schon ganz anders vorgestellt. Irgendwie hochtrabender und wichtiger. Stattdessen war er nüchtern und viel zu schnell vorüber, um ihn überhaupt erfassen zu können. Die Welt hat auch nicht angehalten. Alles war ganz normal, alles lief weiter, nur das Hier und Jetzt für uns hatte sich verändert. Mehr nicht. Noch den Moment, bevor der Arzt durch die Tür trat und die lang ersehnten Ergebnisse der Knochenmarksbiopsie brachte, war ich voll mit Gefühlen. Dutzende davon, eins schlimmer und anstrengender als das andere.
Gefühle sind verkappte kleine Biester und meist gar nicht so leicht einzuordnen und zu bewerten.
Soll ich euch verraten, was unsere erste Reaktion auf die Krebsdiagnose war? Erleichterung.
Theatralische Pause... Ganz genau. Beträfe es mich nicht, ich wäre vermutlich genauso erstaunt wie ihr jetzt.
So einfach, wie es sich gerade anhört, war es auch gar nicht. Ihr solltet wissen, dass wir vor der Diagnose eine ziemlich zehrende Zeit hinter uns hatten. Und eines daran war am schlimmsten: Nämlich unserem Sohn tage- und nächtelang zuzusehen, wie er an unsäglichen Schmerzen leidet, und niemand uns erklären konnte, woher sie kamen. Und mit der Diagnose war da etwas, das wir angehen konnten. Endlich wussten wir, woran wir sind. Eine Diagnose, die schlimmer nicht hätte ausfallen können. Dennoch war da diese eine kleine Aussage ganz am Ende des schier unendlichen Gesprächs: „Wir beginnen direkt mit der Therapie und als Erstes verspreche ich ihnen, dass die Schmerzen ihres Sohnes binnen weniger Tage weg sein werden.“
Da war sie, die Erleichterung, die alles wie eine Blase umschloss, weil für ein paar Minuten klar war, dass die erste Hürde, dieser unerträgliche Schmerz, demnächst vorbei sein würde. Und wir wussten womit wir es zu tun hatten.
Mal ehrlich, spürt ihr die Erleichterung nicht auch? Ganz wenig nur? Wir konnten voran ziehen. Und der Arzt hatte einen Plan. So einen alles einnehmenden Plan, dass wir an aufgeben, weinen, zusammenbrechen und verzweifeln gar nicht denken konnten. Also machten wir uns auf und ich träume noch immer jeden Tag von der Zielgeraden.
Ihr merkt also, ich bin positiv gestimmt. Noch. So man denn den Zustand, in dem wir uns momentan befinden, als positiv benennen könnte.
Nun gut, wo waren wir gleich? Achja, auf der Station. Na, dann schauen wir uns mal weiter um. Da hinten, da läuft Schwester Raya. Ich könnte sie auch Brigitte nennen oder Emma, ihr wüsstet eh nicht, ob es ihr echter oder ein erfundener Name ist. Ist aber auch egal, denn es geht ja nicht um den Namen. Es geht um sie. Wie sie mit einer Leichtigkeit über die Flure fliegt die ich manches Mal total bewundere. Und dann denke ich mir, dass es vermutlich auch nur eine Maske ist. Eine total nötige, aber dennoch vorhandene Maske, die sie aufsetzt, weil sie sie braucht. Genau wie wir. Denn was bringt es schon, wenn die Schwester jetzt auch noch heulend und verzweifelt neben dir steht? Richtig, gar nichts! Also sie ist jetzt mal die Fee in der Geschichte. Wir haben ja schließlich auch schon den hässlichen kleinen Gnomen, da ist so eine Fee jawohl das Mindeste, das ich euch bieten kann. Und da ist sie auch schon. Gut, sie hat jetzt keine Flügel oder einen glitzernden Zauberstab. Dafür hat sie aber etwas viel Besseres, nämlich Morphin! Ja, Raya hat uns erlöst. Uns einen Wunsch erfüllt. Nämlich die erste Nacht, in der der Lütte mal halbwegs schmerzfrei schlief. Und das, meine Lieben, ist tausend Mal geiler, als so eine blöde Märchenfee, das sag ich euch! Keine Sorge, ich bin nicht immer so rotzig. Aber ab und an hilft es. Denn wenn wir ehrlich sind, dann fliegen hier keine Märchenfeen weil es hier nach Desinfektionsmittel und Erbrochenem und nach Krankenhausmittag und diesem einen ganz eigenen „Chemoduft“ riecht. Und das ist kein bisschen märchenhaft. Deshalb darf ich ab und an mal ein bisschen rotziger klingen, als ich im wahren Leben eigentlich bin. Und ich übernehme hier immerhin die Erzählerrolle. Ist auch gar nicht so leicht, wenn ich ehrlich bin. Immerhin geht’s hier um meinen Sohn und unsere Geschichte.
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Steven (Donnerstag, 07 März 2019 08:45)
Jede Geschichte sollte eine Fee haben
Markus (Freitag, 15 März 2019 19:14)
Kann vielem davon nur beipflichten. Unser Sohn hatte mehrere Monate zu leiden, bis wir die Diagnose erhalten haben, einen Tag vor dem Sommerurlaub hieß es: ab ins UKM auf die Kinderonkologie. Wir waren froh, dass es endlich eine Erklärung für seine Schmerzen und das Fieber gab. Wir waren froh und erleichtert, dass es einen Plan gab, an dem er genesen kann. Gut dass wir nicht wussten, wie anstrengend der Plan werden sollte.